Der Tübinger Judaistik-Professor legt hier eine „neuhochdeutsche Lesefassung“ des „in sachlicher Hinsicht wohl schwierigsten“ Judentextes Luthers vor, der in der allgemeinen Diskussion um Luthers Einstellung zu Juden und Judentum fast keine Rolle spielt. Dabei ist bereits Luthers Vorrede ebenso kennzeichnend wie die Tatsache, dass er seiner eigenen Abhandlung eine jüdische „Spott- und Gegenerzählung zu den neutestamentlichen Evangelien, deren Wurzeln in der (entweder babylonischen oder aber auch palästinischen) jüdischen Spätantike liegen und die im Laufe des Mittelalters zu einer mehr oder weniger kohärenten antichristlichen Erzählung zusammengefügt wurde“, die „Toledot Jeschu“. In seinem Vorwort geht Morgenstern auf die Traditions- und Rezeptionsgeschichte dieser Erzählung ein und stellt die Grundsätze seiner Textedition dar. Dankbar nimmt man zur Kenntnis, dass neben zahlreichen Fußnoten, die zu einem großen Teil Luthers Originalformulierungen enthalten, am Ende ein sehr ausführliches Glossar sowie ein Namens- und Bibelstellenregister seine Verwendung als Arbeitsbuch erleichtert. Dort wird u.a. auch der Begriff „Schem Hamephorasch“ erklärt.
Luthers Vorwort zu seiner Schrift besteht hauptsächlich aus der Darstellung einer angeblich unverbesserlichen Verstocktheit der Juden, die für ihn „Kinder des Teufels“ sind. Bei der Wiedergabe des Textes der Toledot Jeschu benutzt Luther offensichtlich eine Version, die sofort bei dem angeblichen Diebstahl des Gottesnamens zum Zweck der Zauberei einsetzt. Luthers Kurzkommentar zeigt allerdings, dass er mit seiner Polemik weniger Juden als Christen im Blick hat, die dem Judentum zuneigen. Diesem Zweck dienen auch die angeblichen jüdischen „Glaubensartikel“, die den Toledot zugrunde liegen. Dabei gibt Luther oft wirre Behauptungen dieses Pamphlets als jüdische „Glaubensartikel“ wieder, meist in einer höhnisch triumphierenden Diktion. Luther ist sich dessen bewusst, weist aber den Verdacht des Spottes zurück: „So spotten die Juden hiermit am meisten auch über sich selbst, indem sie dem Teufel, ihrem Gott, in diesem Spott gehorchen.“ Wer dies liest, muss sich unwillkürlich fragen, ob Luther dies tatsächlich für die geltende jüdische Lehre gehalten hat oder ob ihm dieses Mittel eben recht ist, um konversionswillige Christen davon abzuhalten. Völlig absurd klingt sein damit verbundener Vorwurf jüdischer Vielgötterei und Teufelsanbetung. Mit der Abwehr des Vorwurfs man betreibe – etwa bei der Taufe – ebenfalls einen Worzauber, entfaltet er eine kurzgefasste evangelische Tauflehre, die sich ebenso gegen die Papstkirche wendet.
Danach kommt Luther auf die Kabbalistik zu sprechen, was auch den Titel dieser Veröffentlichung rechtfertigt. Sehr detailliert geht Luther anhand von konstruierten Beispielen auf die kabbalistische Auslegungsmethode ein, deren Sinn er allerdings nicht verstanden hat oder verstehen will. Durch Zwischenüberschriften stellt Morgenstern als Luthers Polemik gegen diese Buchstabenmystik, die insgesamt 72 Engel kennt, heraus: Willkür und Unsinnigkeit. Die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche dient Luther dabei als willkommene Veranschaulichung. Midraschartig führt er aus, dass Hamephorasch bei anderer Vokalisation auch als „Kot“ gelesen werden könne, nämlich Scham Hapores, „hier ist Dreck“, und verwendet im weiteren Verlauf nur noch diese Version. Vor allem aber hat er es auf die in der Kabbala vorausgesetzten 72 Engel abgesehen, indem sie „aus Buchstaben Engel und Götter machen, wieviel sie wollen“. Ginge es dabei um ein unterhaltsames Gesellschaftsspiel oder eine pädagogische Lernübung, würde Luther dies „ertragen wie ein lustiges Kinderspiel“. Wenn allerdings diesen Buchstaben eine wirksame Kraft zugetraut wird, handelt hier „der leidige, lästerliche Teufel selbst mit aller seiner Bosheit aus der Hölle heraus.“ Mit dieser Sicht der Kabbala will er jüdische Kritik an der christlichen Trinitätslehre abwehren. Dass er damit nicht die talmudische rabbinische Lehre trifft, scheint Luther nicht zu wissen oder wissen zu wollen, wenn er diese „Narrheit“ den Rabbinen unterstellt, dass sie damit Gott selbst zum Teufel machen, „der Lust und Liebe dazu hat, arme Seelen zu verführen“. Aus diesem Grund hält er es für gerechtfertigt, dass die Gottes Wort „ohne Unterlass verachtet, verspottet, verlästert und verdammt haben, [wie] sonst niemand bestraft werden“. Er fürchtet auch Gottes Zorn, wenn „wir die¬se verfluchten, offenkundigen Gotteslästerer bei uns dulden“, eine Befürchtung, die er auch in anderen judenfeindlichen Schriften jener Zeit äußert. Luthers Judenfeindlichkeit wird man daher als Angstreaktion auf fehlerhafte Kenntnisse bezeichnen müssen.
Sehr ausführlich setzt sich Luther mit dem Gottesnamen auseinander, ausgehend von der Unausprechbarkeit des Gottesnamens, und entfaltet dabei eine kurzgefasste Gotteslehre und Christologie. Er fordert, Gottes Wesen „zu erkennen und in der Schrift zu suchen lernen, wie er sich selbst durch sein Wort in diesem Leben geoffenbart hat“. Hier könnten wohl alle Rabbinen zustimmen, würde Luther mit der Wendung „durch sein Wort in diesem Leben geoffenbart“ nicht eindeutig Jesus und nicht die biblischen Schriften meinen. Den Bar Kochba-Aufstand generalisiert er und folgert daraus, „ihr Messias soll sich nicht kreuzigen lassen, sondern die Heiden totschlagen und die Juden zu Herren der Welt machen.“ Statt dessen wirft er den Juden „Zauberei, Schwindel und Abgötterei“ mit dem Namen Gottes vor – ein Gedanke, den er den eingangs zitierten „Toledot Jeschu“ entnommen hat. Diesen Teil schließt er mit dem Gesamturteil ab: „Es ist der Zorn Gottes über sie gekommen, wie sie es verdient haben.“ Morgenstern hat bereits in seinem Vorwort darauf verwiesen, dass nach seiner Auffassung der zweite Teil dieser Schrift „und vom Geschlecht Christi“ kein zufälliger Anhang sei, sondern er „schließt sich organisch an.“ In der Tat nimmt dieser Teil mehr als die Hälfte der gesamten Schrift ein.
Ausgangspunkt sind die unterschiedlichen Genealogien Jesu bei Mt und Lk, die jedoch beide mit Josef, nicht mit Maria enden und daher sowohl bei Juden als auch bei römischen Gegnern des Christentums zur Widerlegung der Messianität Jesu gedient haben. Diese vergleicht er mit „giftigen, stacheligen Schlangen“, eine Begrifflichkeit, die sich durch die gesamte Schrift zieht. Seine Schriftbeweise für die Herkunft Marias aus dem Stamm Juda sind nach allen exegetischen Regeln haarsträubend: „… wenn er nun keinen Vater, sondern nur eine Mutter hat, so muss die Mutter gewiss auch Davids Tochter sein.“ Nach den Gesetzen der Logik ist dies ein lupenreiner circulus vitiosus.
Man merkt den weiteren Ausführungen an, dass sich Luther mit jüdischen Argumenten auseinandersetzt, die darauf beruhen, dass in den Evangelien abweichende Überlieferungen enthalten sind, und postuliert, wenn der Hauptartikel, dass Jesus der Messias sei, übereinstimme, seien alle anderen Unterschiede belanglos, weil sowieso nicht alles wiedergegeben werden könne (vgl. Joh 20). Den jüdischen Zweifel an Marias davidischer Abstammung will er „ihnen mit gleicher Münze heimzahlen“ und bezweifeln, dass die heutigen Juden mit dem biblischen Israel identisch seien, weil dies nirgends in der Schrift belegt sei. Anschließend schüttet er wieder seinen antijüdischen Schmutz¬kübel aus, indem er – auch unter Hinweis auf seine vorangehende judenfeindliche Schrift – alle mittelalterlichen Verdächtigungen in wenigen Worten zusammenfasst – bis hin zu dem Vorwurf, sogar Dorfpfarrer ließen sich von ihnen zu betrügerischen Zaubereien mit dem Gottesnamen verführen. Als Gegenbeispiel erzählt er von einem Sachsenherzogs, der den Schwindel eines Juden aufdeckte. Weil aber das Neue Testament davon spreche, dass die Juden unter alle Völker zerstreut werden, müsse er glauben, dass noch Reste Israels bis zum Endgericht überleben, allerdings mit allerlei Gesindel vermischt, das sich von ihnen habe überzeugen lassen.
Anschließend geht Luther verschiedenen Schriftstellen nach, die christologisch gedeutet Jesu davidische Abstammung beweisen sollen. Dieser Abschnitt ist vor allem auslegungsgeschichtlich interessant. Jer 31 dient dabei sogar zu einer antijüdischen Satire. Was Erfüllung des Gesetzes bedeute, sollen die Juden von Paulus, Johannes und Petrus lernen, denn wie wäre es möglich, dass diese „Saujuden in ihrer Sauschule solche hohe Worte verstehen“ können!? Solche Ausdrücke der Fäkalsprache lassen sich nicht mehr mit üblichem Grobianismus erklären. Auf Luthers Bemühungen, die Genealogien bei Mt und Lk in Einklang zu bringen, kann hier nur hingewiesen werden. Gleiches gilt für seinen Aufwand, Maria als Cousine Josefs zu erweisen; dabei greift er auch auf Harmonisierungsversuche des Hieronymus und anderer zurück. Auch andere von mittelalterlichen Theologen konstruierten verwandtschaftliche Beziehungen nimmt er unter die Lupe und stellt schließlich eine eigene Genealogie Jesu auf: „Wer es besser machen [kann], der soll Recht haben.“ Die Jungfrauengeburt war nach seiner Überzeugung „für die Frommen schwer zu glauben, für die Halsstarrigen aber unmöglich zu glauben.“ Jesu Leben war bis zu seinem öffentlichen Auftreten unspektakulär; so erklärt er den Widerstand gegen ihn, erst recht gegen die Botschaft von seiner Auferstehung. Luther greift bei der Frage der Jungfrauengeburt sowohl auf seine früheren Äußerungen zu Jes 7,14 zurück als auch auf weitere jüdische philologische Argumente, zumal er demjenigen 100 Gulden versprochen hat, der nachweisen könne, dass „alma“ auch eine verheiratete Frau bezeichnen könne. Luther beweist in der umfang¬reichen Auseinandersetzung mit diesen und anderen jüdischen Argumenten und Auslegungen eine breite Kenntnis, wobei Morgenstern manche Anspielung in ausführlichen Fußnoten ent¬schlüsselt und damit erst verständlich macht. Dies alles ist höchst lesenswert als Ausdruck ernsthafter Auseinandersetzungen um das rechte Verständnis der Schrift.
Im Zeitalter christlich-jüdischer Begegnung klingt besonders alarmierend, es sei „uns Christen bei Verlust der göttlichen Gnade und des ewigen Lebens verboten, die Schriftauslegung und die Glossen der Rabbinen zu glauben oder für richtig zu halten. Lesen mögen wir es, [um] zu sehen, was für ein verdammtes Teufelswerk sie bei sich treiben, und [um] uns davor zu hüten.“ Luther kann offensichtlich nur kontroverstheologisch, nicht konvergenztheologisch denken. Ginge es nur um einen Beleg für Luthers Judenfeindlichkeit, so könnte man diese Schrift durchaus übergehen; denn sie enthält in dieser Hinsicht nichts Neues; lesenswert und in dieser Hinsicht beachtenswert ist allerdings der Einblick, den diese Schrift in Luthers Hermeneutik bietet, auch wenn diese nach heutigen Auslegungsmaßstäben stellenweise haarsträubend ist. Da aber Luther Biblizist mit allen Licht- und Schattenseiten war, ist sie ein wichtiges Dokument seines Denkens und damit ein Beitrag, ihn zu verstehen, wenn auch nicht zu billigen. In einem als „Anhang“ bezeichneten Teil dieses Buches ordnet Morgenstern diese Lu¬therschrift in die damalige jüdische Volksliteratur der Kabbala und jüdischen Mystik ein, wobei beide Begriff nicht völlig zutreffend sind, wie das Glossar deutlich macht, das hier wie auch sonst unbedingt beachtet und benutzt werden sollte, um Missver¬ständnisse zu vermeiden. Zu beachten ist auch, dass Luther diese Schriften nur in lateinischer Übersetzung vorlagen. Inwieweit es sich dabei tatsächlich um in der jüdischen Bevölkerung verbreitete „Volksliteratur“ handelt, wird nicht erörtert. Dies erscheint et¬wa angesichts der Buchstabensymbolik des „Sefer Jezira“ äußerst unwahrscheinlich. Morgenstern geht dabei gut verständlich auf verschiedene spekulative Symboliken ein, die Buchstaben und Zahlensymbolik (Gematria). Doch wird auch hier nicht deutlich, inwieweit es sich dabei tatsächlich im Volk verbreitete und verwurzelte Auffassungen handelt, so dass Luthers Vorwürfe gegen „die“ Juden gerechtfertigt wären. Wenn Morgenstern die Vermutung äußert, dass bereits Hieronymus das Sefirot-Schema, das auch dem Sohar zugrunde liegt, kannte, ist dies insofern nicht verwunderlich, als diese Sefirot gnostischen Emanationsvorstellungen sehr nahe verwandt sind. Auch die Einflüsse dieser jüdischen Kabbala auf christlich-mystische Systeme werden knapp aber ver¬ständlich dargestellt. Dass in der mittelalterlichen Kirche in ähnlicher Weise Spekulationen über den Namen Jesu angestellt wurden und deshalb in jüdischen Schriften der Name Jesu nur „Jeschu“ laute, klingt plausibel, ist aber nicht zwingend; es könnte sich auch um einen Anklang an die griechische Namensform im Neuen Testament handeln. Lesenswert sind vor allem die Kurzdarstellungen über Pico della Mirandola und Reuchlin. Bezüglich Luthers Hermeneutik ist besonders bemerkenswert, dass er die christologische Auslegung des Alten Testaments als eigentlichen Literalsinn ansah. Wichtig, „dass Luther sich nicht für abstrakte Spekulationen über Gott interessierte“ und Wissen, das dem Volk durch solche „Experten … erst zugänglich gemacht werden musste“, als „schädlich oder gar gefährlich“ empfand.
Die Toledot Jeschu haben allerdings nur insofern etwas mit Kabbalistik zu tun, als behauptet wird, Jesus habe mit dem „Geheimen Gottesnamen“ Zauberei getrieben. Morgensterns Gesamturteil über diese Schrift ist zutreffend, Details über ihre Entstehung und Verwendung interessant. In diesem Buch folgen noch von Luther ausgelassene Teile der Toledot Jeschu – vor allem aber das interessante, geradezu unerlässliche Glossar, Literaturhinweise und einige Register, die dieses Buch zu einem Arbeitsmittel machen.
Dr. Hans Maaß
Matthias Morgenstern MARTIN LUTHER UND DIE KABBALA Vom Schem Hamephorasch und vom Geschlecht Christi. Bearbeitet und Kommentiert von Matthias Morgenstern
298 S., geb., ISBN 978-3-7374-1327-5 19,90 Euro
Berlin University Press, Verlagshaus Römerweg GmbH
|
|
|