Der Neutestamentler Adolf Schlatter (1852-1938) schrieb einmal: „Wissenschaft ist erstens Sehen und zweitens Sehen und drittens Sehen.“ In diesem neuen Buch wird das menschliche Sehen jedoch auf mancherlei andere Weise untersucht. Gleich eingangs wird festgestellt, dass Mediziner und Biologen seit Jahrhunderten vom menschlichen Auge fasziniert sind. „Wir erforschen [aber] nicht nur das Sehen, sondern machen auch Unsichtbares sichtbar und manchmal sogar Sichtbares unsichtbar.“ (XIII) Und eine Seite weiter heißt es: „Was wir gesehen haben, was wir sehen wollen, was wir noch nicht sehen können – die Prüfung des Sichtbaren und die Zugänge zum Unsichtbaren fordern uns heraus...“
So eingestimmt, liest man interdisziplinäre und spannende Beiträge wie „Ich sehe was, was du nicht siehst – über Ungesehenes im Sichtbaren“; die Ausgangs- und Hauptthese lautet: „Es ist mehr zu sehen, als wir tatsächlich sehen. Dieser Überschuss im Sehen – das, was es mehr zu sehen gäbe – resultiert aus Entzogenem und Unsichtbarem.“ (S. 5) Oder Hans-Georg Wiecks Äußerungen zu „Demokratie und Geheimdienste“; er war von 1985-1990 immerhin Präsident des Bundesnachrichtendienstes! Die Seiten 131-133, die ein Fallbeispiel beinhalten, zählen jedoch nur Daten und Fakten auf, sind also zu kurz und bleiben blass. Knut Berner behandelt „Schönheit in der Spannung von Offenbarung und Verborgenheit“; seine prüfenswerte These ist: „Schönheit ist eine Leerstelle für die Sehnsucht nach dem nicht Verwertbaren und eine Verheißung der Sichtbarwerdung des heilsam Intelligiblen.“ (S. 65)
So nimmt der erste Teil („A. Sichtbares und Unsichtbares“) den Buchtitel auf; der zweite Teil („B. Emotionen – Freund oder Feind?“) wirkt dem gegenüber aufgesetzt, nicht organisch mit dem Buchtitel verbunden, wie fremd und nicht dazu gehörend. Da geht es beispielsweise um „Emotionen und Strafrecht“ oder um „Trauer, Wut und Klage – Warum lässt Gott das Böse zu?“ In einem Bild und fast böse gesagt: Man kaufte einen Sack Kartoffel und wundert sich dann, dass da auch Birnen und Äpfel drinne sind. Das Positive: man freut sich an den Äpfeln und Birnen! Wieder sachlich: Die beiden Teile A und B wären es wert gewesen, als zwei eigenständige Bücher veröffentlicht zu werden. Im Teil A bitte dann auch ein psychoanalytischer Beitrag. Geht es doch in der Psychoanalyse auch darum, bisher nicht gesehene Dynamiken des eigenen Lebens wahrzunehmen und diese zu integrieren.
Trotz dieser grundsätzlichen Kritik (und bei genauerer Lektüre käme dann noch das Eine oder Andere hinzu) ist dieses Buch ein Muss für alle eidetisch veranlagten und interessierten Menschen und für alle, die sich beruflich im visuellen und/oder künstlerischen Bereich bewegen und die mehr über das Grundwort sehen erfahren möchten. (gm)
Knut Berner, Friederike Faß (Hg.) Sichtbares und Unsichtbares
Reihe: Villigst Profile Bd. 17, 2014, 352 S., 29.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-12550-7
LIT-Verlag
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