Stangneth, B.: Böses Denken

Der Anfang April 90 Jahre alt gewordene Moltmann erzählte einmal in einem Interview, dass es im Gespräch mit seiner Frau oft um das Böse ging / geht, auch darum, „wie man mit dem Bösen umgeht.“ Der 1966 geborenen, studierten, promovierten und preisgekrönten Philosophin dieses neuen Buches über das uralte Problem des Böses geht es auch darum, zuerst und vor allem aber um Versuche, das Böse philosophisch zu verstehen, also nicht theologisch oder (psycho-)sozial. In ihrer „Einleitung“ (S. 9-20) sagt sie unter anderem: „Wer über das Böse spricht, der warnt - nicht nur vor den unterschätzten Tätern, sondern auch vor der verführerischen Kraft schöner Theorien und einfacher Lösungen.“ (S. 13) Dann zwei Seiten später in einem winzigkleinen, thetisch-grundsätzlich (Ab-)satz: „Wer heute vom Bösen spricht, der spricht allein vom Menschen.“ Niemand ist da ausgeschlossen: „Sogar große Denker können nicht nur groß irren, sondern gefährlich.“ (S. 244)

Stangneth schreibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in der Rückschau auf Immanuel Kant (seiner Kategorie des radikal Bösen ist das erste Kapitel gewidmet) und im besonderen auf das Denken und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die sich mit dem Holocaust verbinden. Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ ist der Inhalt des zweiten Kapitels. In beiden Metiers ist Stangneth ausgewiesen, einmal durch ihre Dissertation über Kant, sodann durch ihr Buch „Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers“ (2012).

Stangneth erkennt in der Aufklärung (Kant und Arendt) den Weg, „auf dem man überhaupt etwas gegen die Unmoral ausrichten kann.“ (S. 117) Sie plädiert für eine öffentliche Moral, die im Individuum ihren Grund hat, vor allem aber Gesellschaft und Staat betrifft. Das ganze Buch ist durchsetzt mit Gedanken und Sätzen zur Moral, und es endet S. 241-246 expressis verbis mit dem kleinen Schlusskapitel „Von der Moral“. Hier zeigt sich – unausgesprochen – die Nähe zu Susan Neiman. Der dankt Stangneth zwar, nimmt aber ansonsten keinen Bezug auf deren Buch „Das Böse denken“ (2004).

Ein letzter Gedanke: Beim Lesen dieses Buches fiel mir öfter Genesis 8,21 ein: „das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“. Aber Stangneth denkt nicht in biblisch-theologischen Bahnen. Nur sehr sehr selten und nur sehr sehr kurz blitzt Gott auf, zum Beispiel S. 131: „Die Frage nach Gott stellt sich in Momenten des Erschreckens, also dann, wenn der Mensch mit etwas konfrontiert ist, dem wir (sic!) nicht entfliehen können...“ Rudolf Ottos Offenbarungen Gottes werden damit auf das mysterium tremendum reduziert. Von der Vielzahl der biblischen Zuwendungen Gottes ist nirgends die Rede, vor allem nicht, dass Genesis 8,21 keine anthropologische Seinsaussage ist, sondern vom Kontext her (Sintflutgeschichte; Genesis 8,21f) ein Ausdruck der Geduld und Grundgüte Gottes. (gm)


Bettina Stangneth
Böses Denken
Reinbek bei Hamburg 2016
gebunden
254 S.
19,95 €

Rowohlt



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