Jahreslosung 2011: Lass dich nicht vom Bösen überwinden,
sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Römer 12,21
Ein Bibelvers, der gut und souverän klingt. Man fragt sich nur, warum
einem so ein Rat gegeben wird. Warum hat Paulus geraten, das Böse
nicht mit Bösem zu beantworten, sondern mit Gutem zu überwinden?
Dies tat er aus gutem Grund, denn auch Christen haben sich nicht immer
friedlich und entgegenkommend gezeigt. Paulus schreibt diese Zeilen
den ersten Christen in Rom, die verfolgt und drangsaliert wurden und
um ihr Leben bangten, - und von denen erwartet wurden, dass sie sich
eines Tages für die ihnen angetanen Gräueltaten revanchieren würden.
Denen schreibt Paulus eindringlich, dass sie eben nicht Böses, das
ihnen widerfahren ist, mit Bösen vergelten sollten.
Vielleicht irritiert es uns heute und wir können uns gar nicht
vorstellen, dass gläubige Menschen, Christen, Grausamkeiten begehen könnten.
Aber wer sich ungerecht behandelt vorkommt, ist häufig geneigt, Böses
mit Bösem zu vergelten und wer das Denken nicht attackieren kann,
attackiert den Denkenden. So geschehen mit der (nicht-christlichen)
Philosophin Hypatia, damals in Alexandria. Der kirchliche Lektor
Petros und eine Schar Christen lauerten Hypatia auf, brachten sie in
die Kirche Kaisarion, zogen sie dort nackt aus und steinigten sie,
rissen den Leichnam in Stücke, brachten die Leichenteile an einen Ort
namens Kinaron und verbrannten sie dort. Daraufhin schrieb ein
Richter diese Worte: „Hütet euch vor den Christen, wenn sie die
Katakomben verlassen. Hütet euch vor ihnen, wenn sie beginnen, Böses
mit Bösem zu vergelten!“ Böses wurde mit Bösem vergolten. So
kennen wir das, - und das führt zu weiteren Vergeltungen, zu einer
Spirale der Gewalt. Die Folgen davon füllen die Nachrichtensendungen
weltweit.
Gewalt gegen Gewalt. Was ist die Alternative? Dem Bösen nicht mit Bösem
begegnen, sonder mit Gutem? Klingt gut, - aber funktioniert das im
wirklichen Leben? Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, kein
Märchen, eine wahre Geschichte. Sie handelt von dem Franzosen Erino
Dapozzo. Er saß während des 2. Weltkrieges in einem deutschen
Konzentrationslager, bekam viele Prügel, aber wenig zu essen. Sein Körper
war mit Wunden übersät, der rechte Arm gebrochen und er wog nur noch
45 kg.
Am Weihnachtsabend 1943 ließ ihn der Lagerkommandant zu sich kommen.
In der gut beheizten Stube saß dieser vor einer reich gedeckten Tafel
und ließ den halb verhungerten Dapozzo zusehen, wie es ihm schmeckte.
Nachdem der Lagerkommandant genüsslich getafelt hatte und mehr als
satt war – im Gegensatz zum hungernden Dapozzo – brachte man ihm
Kaffee und einen Kuchen, den er auch noch mit Genuss verspeiste.
„Ihre Frau ist eine gute Köchin!“, sagte er, als er den letzten
Krümel hinuntergeschluckte hatte. Dapozzo verstand nicht. „Seit
Jahren schickt Ihre Frau Pakete mit kleinen Kuchen, die ich immer mit
Genuss gegessen habe!“ Dapozzo musste sehr an sich halten, um den
Kommandanten nicht an den Kragen zu gehen. Seine Frau und die vier
Kinder hatten sich Mehl, Zucker und Fett gespart, um ihm etwas
zukommen zu lassen. Und dieser feiste und fette Kommandant verspeiste
dies vor seinen Augen und ließ ihn dabei fast verhungern. Dapozzo bat
den Kommandanten, wenigstens an dem Kuchen riechen zu dürfen, um dem
nahe zu sein, was ihm seine Frau und Kinder zugedacht hatten. Nicht
einmal das wurde ihm gewährt. Stattdessen verfluchte er ihn und
sandte ihn ins Lager zurück.
Wie durch ein Wunder überstand er das Konzentrationslager. Als der
Krieg vorbei und er befreit war, versuchte er, seinen ehemaligen
Lagerkommandanten zu finden. Die meisten einstmals befehlenden
Offiziere waren erschossen worden; dem Kommandanten jedoch war es
gelungen, zu entkommen und unterzutauchen. Zehn Jahre lang suchte
Dapozzo ihn vergebens. Doch eines Tages fand er ihn und er besuchte
ihn und dessen Frau. Der ehemalige Lagerkommandant erkannte ihn nicht
mehr wieder. Daraufhin sagte ich ihm Dapozzo: „Ich bin Nummer 17531.
Erinnern Sie sich an Weihnachten 1943?“ Nun erinnerte er sich
schlagartig an all das Grauen. Er bekam plötzlich furchtbare Angst.
Zitternd fragte er: „Sie sind gekommen, um sich zu rächen?“
„Ja“, antwortete Dapozzo und öffnete ein Paket, das er
mitgebracht hatte. Ein großer Kuchen kam zum Vorschein. „Ich will
mit Ihnen und Ihrer Frau Kaffee trinken und diesen Kuchen essen!“
Der ehemalige Lagerkommandant sah Dapozzo völlig verwirrt an. Er
konnte nicht verstehen, warum Dapozzo so handelte. Schweigend aßen
sie den Kuchen, schließlich begann der ehemalige Lagerkommandant zu
weinen und bat Dapozzo um Verzeihung. Dapozzo meinte nur: Um der Liebe
Jesu willen vergebe ich Ihnen. Wir lieben, weil ER uns zuerst geliebt
hat.“ Später berichtet Dapozzo: „Ein Jahr später bekehrten sich
dieser Mann und seine Frau zu Christus.“
Eine beeindruckende Geschichte. Unsere natürliche Reaktion besteht üblicherweise
aus Vergeltung oder aus Weglaufen. Dapozzo hat Böses nicht mit Bösem
vergolten, sondern mit Gutem überwunden, - und wiederum Gutes
bewirkt. Die Jahreslosung fordert uns zu diesem dritten Weg auf: Wir
sollen das Böse mit Gutem überwinden, denn es führt das Gute
weiter. Ganz schön schwierig, - und bei manchen Verletzungen
vielleicht sogar fast unmöglich. Andererseits ist dieser dritte Weg
vielleicht der einzige Weg, um eine Gewaltspirale zu stoppen.
Gut ist es, dass dieser Bibelvers nicht nur eine Tages- oder
Monatslosung ist, sondern eine Jahreslosung ist. Wir haben also das
ganze kommende neue Jahr Zeit, um uns darin zu üben. Übung macht
bekanntlich den Meister. Und, wer weiß, vielleicht bekommen wir es
sogar irgendwann mit, wenn aus unserer guten Reaktion auf Böses Gutes
entstanden ist, wie bei Erino Dapozzos Lagerkommandanten.
Ich wünsche Ihnen ein überwindungsreiches und segensreiches neues
Jahr!
Pfr. Otto W. Ziegelmeier