Ein alter Mann lebte in einem Dorf, er war sehr arm,
aber er besaß ein wunderschönes Pferd. Immer wieder bot man ihm große Summen
dafür, aber der Mann sagte stets: „Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern
ein Freund. Und wie könnte man einen Freund verkaufen?" Der Mann war arm, aber
sein Pferd verkaufte er nie.
Eines Morgens war sein Pferd verschwunden. Das ganze
Dorf versammelte sich, und die Leute sagten: „Du armer Mann! Welch ein Unglück!
Hättest du doch das Pferd nur verkauft. Jetzt hast du gar nichts
mehr.“
Der Alte aber sagte: „Ja, das Pferd ist nicht im Stall,
das ist Tatsache; alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen,
weiß ich nicht, sehe ich doch nur ein Bruchstück des Ganzen. Wer weiß, wozu es
gut sein mag?"
Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer
gewusst, dass er ein bisschen verrückt war. Aber nach einigen Tagen kehrte
tatsächlich das Pferd zurück. Und nicht nur das, es brachte auch noch ein
Dutzend wilder Pferde mit.
Wieder versammelten sich die Leute und sagten: „Alter
Mann, du hattest recht. Es war kein Unglück, es hat sich tatsächlich als ein
Segen erwiesen."
Der Alte entgegnete gelassen: „Wieder geht ihr zu weit.
Sagt einfach: Das Pferd ist zurück. Wer weiß, ob das ein Segen ist oder nicht?
Es ist nur ein Bruchstück. Ihr lest nur ein einziges Wort in einem Satz - wie
könnt ihr das ganze Buch beurteilen?"
Dieses Mal wussten die Leute nichts einzuwenden und
gingen nachdenklich nachhause und fragten sich, warum sich der Alten nicht über
die zwölf herrlichen Pferde freute.
Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn und dieser
begann, am nächsten Tag die Wildpferde zuzureiten. Dabei fiel er von einem der
Pferde und brach sich beide Beine.
Wieder versammelten sich die Leute, und wieder urteilten
sie: „Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr
gebrauchen, er war die einzige Stütze deines Alters, und die Ernte steht bevor.
Jetzt bist du ärmer als je zuvor."
Der Alte antwortete gelassen: „Ihr seid besessen vom
Urteilen. Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen
hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist! Wer weiß, wozu es gut
ist!“
Kurze Zeit später ergab es sich, dass der König des
Landes einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes wurden zwangsweise
eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er verkrüppelt war.
Der ganze Ort war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu
gewinnen war und man wusste, dass die meisten der jungen Männer nicht nach Hause
zurückkehren würden.
Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: „Du hattest
recht, alter Mann - es hat sich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar
verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir. Unsere Söhne sind für immer
fort."
Doch wieder antwortete der Alte: „Ihr hört nicht auf zu
urteilen. Sagt nur dies: dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat, und
dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Doch nur Gott, der das Ganze kennt, weiß,
ob dies ein Segen oder ein Unglück ist. Wer weiß, wozu es gut ist!"
Kommt uns das nicht bekannt vor: Schnell sind auch wir
mit unseren Urteilen. Doch die Geschichte und auch diese Geschichte zeigen, dass
wir mit dem, was da auf der Hand liegt, ganz schön daneben liegen können.
Natürlich müssen wir Dinge und auch Menschen einschätzen. Diese Geschichte und
die Erfahrung zeigen aber, dass wir Dingen und insbesondere Menschen eine zweite
Chance geben sollten, da beide – unter anderem Licht gesehen oder unter anderen
Umständen – ganz anders aussehen. Das ist das eine, das wir davon lernen
können.
Und das andere: Von der Geschichte und von dem Alten
kann man lernen, gelassener zu werden. Ob etwas Glück oder Unglück ist, - wer
weiß? Und wozu es gut ist, weiß man erst viel, viel später. Gelassenheit
bewahren, hilft Situationen zu ertragen, denn es hat wohl seinen Grund, auch
wenn ich ihn gerade nicht verstehe.
Diese Gelassenheit kommt aus Geborgenheit und der
Gewissheit, dass wir nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand. Denn uns
gilt die Zusage Jesu: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt
28,20). Und der weiß, wozu es gut ist, und der will, dass es uns gut
geht!
Zwergereise
2015