Hl. Kümmernis: Conchita Wurst des Mittelalters?

Eine Conchita Wurst des Mittelalters? Die heilige Kümmernis – ein Kuriosum der Volksfrömmigkeit

Ein Blick auf eine skurrile Heiligenlegende und ihre Bedeutung

Die christliche Ikonographie ist reich an faszinierenden und manchmal bizarren Darstellungen, die uns heute erstaunen mögen, aber einst tief in der Volksfrömmigkeit verwurzelt waren. Eine solche Figur ist die heilige Kümmernis, auch bekannt als Wilgefortis, eine jungfräuliche Märtyrerin, die im Mittelalter verehrt wurde. Ihre Darstellung – eine vollbärtige Frau am Kreuz, begleitet von einem Geiger zu ihren Füßen – erinnert unweigerlich an moderne Phänomene wie Conchita Wurst. Doch wer war diese mysteriöse Heilige, und wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Kult?

Die Legende der heiligen Kümmernis
Der Name Wilgefortis steht im Althochdeutschen für "starker Wille" oder im Lateinischen für "starke Jungfrau". Erstmals im 15. Jahrhundert in den Niederlanden bezeugt, erzählt die Legende von einer schönen und tugendhaften Königstochter aus Lusitanien, dem heutigen Portugal. Ihr Vater wollte sie mit einem heidnischen Prinzen vermählen, doch Wilgefortis hatte sich Christus als ewiger Jungfrau geweiht.

In ihrer Verzweiflung bat sie Gott, sie so zu entstellen, dass kein Mann sie mehr begehren würde. Ihr Gebet wurde erhört, und sie wuchs ein Bart. Der Vater, erzürnt über diese Veränderung und ihre Weigerung zu heiraten, ließ sie kreuzigen, wodurch sie Christus noch ähnlicher wurde. Drei Tage lang predigte sie vom Kreuz herab und bekehrte viele Menschen, darunter schließlich auch ihren eigenen Vater. Soweit die Legende.

Der Geiger und das Wunder
Ein weiteres bemerkenswertes Element der Legende ist die Geschichte eines armen Geigers. Dieser spielte in einer Kirche vor dem Bildnis der Heiligen Kümmernis und zeigte ihr so seine Verehrung. Aus Dankbarkeit warf ihm die Heilige aus dem Bild heraus einen ihrer goldenen Schuhe zu. Des Diebstahls beschuldigt und zum Tode verurteilt, erhielt er als letzten Wunsch, noch einmal vor dem Bildnis zu spielen. Erneut warf ihm die Heilige den zweiten Schuh zu, wodurch seine Unschuld bewiesen wurde und er begnadigt wurde.

Ikonographie und mögliche Ursprünge
Die ungewöhnliche Darstellung der heiligen Kümmernis als bärtige Frau am Kreuz hat zu vielen Spekulationen geführt. Eine Theorie besagt, dass es sich um eine Verwechslung mit dem "Volto Santo" von Lucca handelt, einem hölzernen Kruzifix, das Christus in königlicher Gewandung zeigt. Dieser Bildtypus des gekrönten, siegreichen Christus verbreitete sich im Hochmittelalter in Südeuropa.

In Nord- und Mitteleuropa könnte dieses Bildnis, unbekannt mit der südeuropäischen Darstellungstradition, missverstanden worden sein. Der gekreuzigte Christus in prächtiger Kleidung wurde als weibliche Heilige interpretiert, was zur Entstehung der Legende der heiligen Kümmernis führte. Die Verknüpfung mit dem Geiger stammt ebenfalls aus der Überlieferung rund um das "Volto Santo".

Verbreitung und Verehrung
Die heilige Kümmernis trug viele Namen: Im deutschsprachigen Raum Kümmernis oder Kummernus, in den Niederlanden Ontkommer oder Hülpe, in Spanien Santa Librada, in Frankreich Sainte Affligée. Ihr Kult verbreitete sich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in weiten Teilen Europas. Besonders in Süddeutschland und den Alpenländern hielt sich ihre Verehrung bis über die Barockzeit hinaus.

Der Name "Kümmernis" leitet sich von "Entkümmerung" ab, was darauf hindeutet, dass die Heilige als Befreierin von Sorgen und Nöten angesehen wurde. Sie galt als Schutzpatronin für Menschen in Bedrängnis, insbesondere für Frauen, die sich gegen unerwünschte Ehen wehrten.

Die Rolle der Volksfrömmigkeit
Die Legende der heiligen Kümmernis ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Volksfrömmigkeit und lokale Traditionen Einfluss auf die Entwicklung von Heiligenkulten hatten. Obwohl die Amtskirche den Kult nie offiziell anerkannte, fand er großen Anklang bei der Bevölkerung. Dies zeigt, wie tief verwurzelt solche Geschichten im Alltagsglauben waren und wie sie den Menschen Trost und Orientierung boten.

Rückgang und Nachwirkungen
Mit der Aufklärung und den Reformen der Kirche im 18. Jahrhundert ging die Verehrung der heiligen Kümmernis stark zurück. Die Kirche bemühte sich, volkstümliche und theologisch unorthodoxe Kulte einzudämmen. Dennoch hinterließ die Legende Spuren in der Literatur und Kultur. Die Gebrüder Grimm nahmen sie in ihre Märchensammlung auf, und Autoren wie Justinus Kerner ließen sich von ihr inspirieren.

In einigen Regionen, wie in Teilen Bayerns und Österreichs, überlebten Elemente des Kultes bis ins 20. Jahrhundert. Kapellen und Bildnisse erinnern noch heute an diese skurrile Heilige, die einst so vielen Menschen Hoffnung gab.

Theologische Reflexion und moderne Parallelen
Die Geschichte der heiligen Kümmernis wirft interessante Fragen auf. Sie thematisiert den Konflikt zwischen persönlicher Berufung und gesellschaftlichen Erwartungen. Ihre Weigerung, gegen ihren Willen verheiratet zu werden, und ihr Wunsch nach Selbstbestimmung sind Themen, die auch heute noch relevant sind.

Die Parallelen zu Conchita Wurst, einer modernen Künstlerin, die mit Geschlechterrollen spielt, zeigen, wie zeitlos solche Motive sind. Beide Figuren überschreiten traditionelle Geschlechtergrenzen und regen zur Reflexion über Identität und Individualität an.

Fazit
Die heilige Kümmernis ist ein faszinierendes Kuriosum der Volksfrömmigkeit, das uns Einblicke in die religiöse Vorstellungswelt des Mittelalters gibt. Ihre Legende verbindet Elemente des Wunderbaren mit sozialen und theologischen Fragen, die bis heute aktuell sind.

Für Theologiestudierende und Kircheninteressierte bietet die Beschäftigung mit solchen Figuren die Möglichkeit, die Vielfalt der Glaubensausdrücke zu entdecken und zu verstehen, wie Religion und Kultur sich gegenseitig beeinflussen. Sie erinnert uns daran, offen für die verschiedenen Wege zu sein, auf denen Menschen ihren Glauben leben und ausdrücken.

In einer Welt, die sich ständig wandelt, bleibt der Glaube eine Quelle der Inspiration und des Trostes – manchmal auf überraschende und skurrile Weise.


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