Geboren wurde Rudolf Bultmann 1884 in Wiefelstede (bei Oldenburg) als Sohn des evangelischen Pfarrers Arthur Kennedy Bultmann und dessen Frau Helene. Während der Vater sich der liberalen Theologie zuwandte, behielt Bultmanns Mutter zeitlebens eine pietistische Einstellung bei. 1895 bis 1903 besuchte Rudolf Bultmann das humanistische Gymnasium in Oldenburg und war während dieser Zeit Mitglied der Schülerverbindung Camera obscura Oldenburgensis. Nach dem Abitur studierte er Theologie und Philosophie zunächst in Tübingen, wo er mit besonderem Interesse der Vorlesung Karl Müllers über Kirchengeschichte folgte. In Tübingen wurde Bultmann darüber hinaus Mitglied der Akademischen Verbindung Igel. Nach drei Semestern wechselte er 1904 nach Berlin, wo er unter anderem bei Adolf von Harnack und Hermann Gunkel studierte. Schon im Sommer 1905 zog Bultmann nach Marburg, wo er sich zunehmend auf sein späteres Spezialgebiet konzentrierte, das Neue Testament. Einflussreiche Lehrer dieser Zeit waren Adolf Jülicher, Johannes Weiß und Wilhelm Herrmann.
Nachdem er 1907 das erste theologische Examen abgelegt hatte, erlangte Rudolf Bultmann 1910 in Marburg mit einer Arbeit über den Stil der paulinischen Predigt die Doktorwürde. Zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer Untersuchung über die Exegese des Theodor von Mopsuestia, ebenfalls in Marburg. Der Titel seiner Antrittsvorlesung lautete: Was läßt die Spruchquelle über die Urgemeinde erkennen? Bultmann lehrte zunächst als Privatdozent. 1916 erhielt er einen Ruf nach Breslau, im Jahr darauf heiratete er Helene Feldmann. 1920 folgte Bultmann einem Ruf nach Gießen, kehrte als Nachfolger von Wilhelm Heitmüller jedoch schon 1921 nach Marburg zurück. Dort setzte er sich intensiv mit der Philosophie Martin Heideggers auseinander, der 1923 bis 1928 eine außerordentliche Professur in Marburg inne hatte.
In der Zeit des Nationalsozialismus schloss Rudolf Bultmann sich der Bekennenden Kirche und dem Pfarrernotbund an. Er wies in Predigten auf Widersprüche zwischen nationalsozialistischer Ideologie und christlichem Glauben hin, übte jedoch keinen offenen Widerstand und blieb daher bis zu seiner Emeritierung 1951 in Amt und Würden. Im Herbst 1944 nahm Bultmann bis zum Kriegsende die spätere Theologieprofessorin Uta Ranke-Heinemann in seinen Haushalt auf, eine Tochter Hilda Heinemanns, die 1926 bei ihm ihr theologisches Staatsexamen abgelegt hatte.
Rudolf Bultmanns bedeutender Vortrag über Neues Testament und Mythologie (1941) fällt in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die mit diesem Vortrag begonnene Entmythologisierungsdebatte wurde nach dem Krieg kontrovers geführt und führte auf der Flensburger Synode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands 1952 zu einer bischöflichen Erklärung, die sich gegen Bultmanns Ansatz der Entmythologisierung des Neuen Testaments richtete. Es handelte sich jedoch nicht um eine Lehrverurteilung und der Landesbischof Eduard Lohse drückte Bultmann einige Jahre vor dessen Tod das Bedauern der evangelischen Landeskirche über die zwanzig Jahre zuvor abgegebene Erklärung aus.
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Formkritik des Neuen Testaments 1921 veröffentlicht Bultmann seine Geschichte der synoptischen Tradition, die bis heute als Standardwerk zur Exegese des Neuen Testaments gilt. Er liefert darin eine gründliche formgeschichtliche Analyse der synoptischen Evangelien, in der er einzelne Quellen identifiziert, die Eingang in die Evangelien gefunden haben. Ähnlich wie Martin Dibelius vertritt er dabei die Ansicht, dass auch die ältesten Schriftquellen, die auf diese Art rekonstruiert werden, aus einer vorliterarischen Überlieferungsphase hervorgegangen sind. Sie dürfen daher nicht als objektive historische Berichte betrachtet werden, sondern sind bereits vom Glauben der Urgemeinde geprägt. Bultmann zufolge stehen auch frühe christliche Dokumente im Dienst des Glaubens und des Kults und werden erst dann richtig verstanden, wenn ihr „Sitz im Leben“ der Urgemeinde berücksichtigt wird.
Übergang von der liberalen zur dialektischen Theologie In seinem Aufsatz Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung wendet sich Bultmann 1924 von der liberalen Theologie ab. Als Verdienste der liberalen Theologie erkennt er an, dass sie zum Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge beigetragen und ihre Schüler durch ihren radikalen Wahrheitsanspruch zur Kritik erzogen habe. Bultmann wendet sich auch weiterhin nicht gegen die historische Methode als Forschungszweig innerhalb der Theologie, weist jedoch darauf hin, dass sie in der liberalen Theologie eine unangemessene Stellung erhalten habe: Ihre historischen Erkenntnisse seien als Grundlage des christlichen Glaubens untauglich. Bultmann stimmt mit Vertretern der dialektischen Theologie, wie etwa Karl Barth und Friedrich Gogarten, darin überein, dass der Mensch Gott nicht aus eigener Kraft erkennen könne – auch nicht durch theologische Studien. Vielmehr könne Gott sich dem Menschen nur aus seiner Gnade heraus in der Offenbarung zu erkennen geben.
In dem Buch Jesus präsentiert Bultmann 1926 einen konstruktiven Gegenentwurf zur liberalen Theologie: Es geht ihm darin ausdrücklich nicht darum, Jesus als historische Figur zu untersuchen, sondern den Anspruch seiner Verkündigung zu erfassen. Bultmann zufolge richtet sich der christliche Glaube nicht auf Jesus als Person, sondern auf das durch ihn verkörperte Kerygma. Damit steht Bultmann in offenem Gegensatz zu zeitgenössischen Theologen wie Emanuel Hirsch und Wilhelm Herrmann.
Im Aufsatz Kirche und Lehre im Neuen Testament (1929) entfaltet Bultmann sein Verständnis der christlichen Verkündigung genauer: Er fasst sie weder als theoretische Belehrung noch als Annahme absurder Dogmen auf, sondern sieht in ihr eine Ansprache des Menschen, die diesem ein existenzielles Sich-Verstehen ermögliche. Die Situation des Menschen zeichne sich dadurch aus, dass er nicht eigenmächtig über sein Leben verfügt, sich letztlich keine Sicherheit schaffen kann, aber im Vertrauen darauf leben darf, dass Gott ihm in Liebe begegnet, seine Sünden vergibt und sein Dasein rechtfertigt. Für diese Haltung könne man sich jedoch nicht ein für allemal entscheiden, sondern sie müsse sich in konkreten Lebenssituationen jeweils neu bewähren. Diese Position wurde als Existentiale Interpretation des Neuen Testaments bekannt.
Entmythologisierung des Neuen Testaments Ab den 1940er Jahren konzentriert sich Bultmanns theologisches Werk auf die Frage, wie seine existentiale Interpretation der Bibel einem breiten Publikum verständlich gemacht und zu einer Basis des Glaubens werden könne. Zu diesem Zweck entwickelt er ein Programm zur Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, das er 1941 in seiner Schrift Neues Testament und Mythologie vorstellt. Darin geht er davon aus, dass das Neue Testament aus einem mythologischen Weltbild heraus geschrieben wurde, das inzwischen von einem wissenschaftlichen Weltbild abgelöst worden sei. Um eine überholte Gedankenwelt nicht zur Voraussetzung des Glaubens werden zu lassen, sei es Aufgabe der Theologie, den vom mythologischen Weltbild unabhängigen Kern der christlichen Verkündigung herauszuarbeiten:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie, 1941, 18
Als ersten Schritt der Entmythologisierung entfaltet Bultmann das christliche Seinsverständnis. Von neutestamentlichen Begriffen ausgehend unterscheidet er zwischen dem „Sein außerhalb des Glaubens“ und dem „Sein im Glauben“. Das Sein außerhalb des Glaubens umfasst die sicht- und verfügbare materielle Welt mit ihrer Vergänglichkeit, der Sünde, dem Fleisch und den Sorgen. Das Sein im Glauben hingegen zeichne sich durch ein Leben aus dem Unsichtbaren und Unverfügbaren aus, der Preisgabe selbstgeschaffener Sicherheit zugunsten eines Glaubens an die Gnade Gottes. Daraus folge eine Entweltlichung und Wegwendung des Menschen von sich selbst, die ihn zu neuer Freiheit führe.
Bultmann sieht das so entwickelte Seinsverständnis auch in der modernen Philosophie korrekt erfasst, etwa bei Wilhelm Dilthey und Martin Heidegger. Allerdings gehe die Philosophie davon aus, dass es genüge, den Menschen auf seine Natur hinzuweisen, um ihm ein Leben im Einklang mit ihr zu ermöglichen. Die Theologie betrachte dagegen stets noch eine Tat Gottes als dazu notwendig, den Menschen mit seiner Natur zu vereinigen. Außerdem sei die Philosophie nicht völlig selbstständig zu ihrem zutreffenden Verständnis des menschlichen Seins gelangt, sondern habe direkt und indirekt Quellen wie das Neue Testament, Martin Luther und Søren Kierkegaard rezipiert.
Bultmann gesteht der Philosophie ihrerseits zu, ein Vorverständnis des Seins und eine Begrifflichkeit zur Verfügung zu stellen, die theologisches Nachdenken überhaupt erst möglich machten. Die Aussagen und Schlüsse der Theologie gründeten jedoch nicht auf der Philosophie, sondern auf der göttlichen Verkündigung und im Christentum insbesondere dem Kreuzesgeschehen. Der Glaube an die Sündenvergebung und die Erlösung durch die Liebe Gottes sei nur aufgrund des Osterereignisses mehr als Wunschdenken. Die Auferstehung Jesu Christi müsse also mehr sein als mythologische Rede. Da die historisch-kritische Methode das leere Grab und die leibliche Auferstehung Jesu nicht als historisch gesichert erscheinen lasse, sei vielmehr die Entstehung des Osterglaubens unter den Jüngern als historischer Kern zu betrachten. Dieser gelte dem Historiker als visionäres Erlebnis ungeklärter Herkunft, dem glaubenden Christen dagegen als Offenbarung Gottes, dass Jesu Kreuzigung als Heilsereignis zu verstehen sei. Christlicher Glaube bestehe darin, diese Verkündigung als legitimes Gotteswort zu betrachten und sein Leben von diesem her zu verstehen.
Exemplarisch setzt Bultmann sich mit zwei weiteren Aspekten christlicher Mythologie auseinander, der Präexistenz und der Jungfrauengeburt Jesu Christi. In diesen gehe es nicht darum, Jesu historische Herkunft zu klären, sondern seine Bedeutung für den Glauben zu verdeutlichen. Schließlich weist Bultmann darauf hin, dass seine Entmythologisierung nicht als restlos gelten kann, wenn man nicht nur die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments, sondern bereits die Rede vom Wirken Gottes als Mythos auffasst.
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