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Osiander, A.: Ob es wahr und glaublich sei ...

Endlich eine im deutschsprachigen Raum leicht zugängliche Ausgabe dieser erstaunlich kenntnisreichen Schrift des Nürnberger Reformators Andreas Osiander, die belegt, was bereits in der Reformationszeit über Juden und Judentum bekannt war und allgemein bekannt gewesen sein konnte, sofern man an wahrem Wissen interessiert war und nicht wohlfeile Vorurteile willkommen annahm und weitertrug.

In einer kurzen, durch Anmerkungen gut dokumentierten Einleitung weisen die Herausgeber, der Tübinger Judaistikprofessor Matthias Morgenstern und die französische Mediävistin Annie Noblesse-Rocher, auf Absicht und Geschichte dieser Schrift hin und belegen, dass eine Ritualmord-Beschuldigung erstmals 1144 zu belegen ist. Judenfreundliche Äußerungen in Schriften anderer Reformatoren werden als judenmissionarisch begründet festgestellt. Interessant ist dabei, dass sich die Herausgeber bei der Darstellung des Anlasses für Osianders Schrift auch auf eine Chronik des Obmanns jüdischer Gemeinden im Heiligen Römischen Reich, Josel von Rosheim, beziehen können, so dass auch die jüdische Sichtweise zum Tragen kommt. Dass diese Schrift von Osiander stammt, ergibt sich hauptsächlich aus einer Gegenschrift des Ingolstädter Theologen und Luthergegners Johannes Eck. Osianders Brief an einen um Rat fragenden Freund und Gutachten wurde zwar mit seiner Einwilligung, aber ohne Namensnennung 1540 gedruckt, war sehr bald danach aber verschollen und wurde erst 1893 wieder entdeckt. Abgesehen von der wissenschaftlichen Herausgabe in der Gesamtausgabe der Osiander-Schriften lag dieses sog. „Judenbüchlein“ nur in einer im Sinai-Verlag, Tel Aviv, o.J. erschienenen Ausgabe vor, so dass diese jetzt allgemein zugängliche Ausgabe der Evang. Verlagsanstalt Leipzig sehr begrüßenswert ist und hoffentlich auf breites Interesse stößt.

Matthias Morgenstern und Annie Noblesse-Rocher begnügen sich allerdings nicht mit dem Abdruck dieses Büchleins in moderner Sprache. Abgesehen von zahlreichen durchgehend wertvollen Fußnoten geben sie zunächst einen einführenden Überblick über Andreas Osiander als „Reformator und Hebraist“, über Umstände und Entstehung dieses Büchleins, die Geschichte der Ritualmordbeschuldigungen sowie Luthers Haltung dazu und schließlich Osianders Argumente.
Sehr ausführlich wird der interessante Lebenslauf und Werdegang Osianders meist im Anschluss an Gottfried Seebaß dargestellt. Dabei kommen auch seine theologischen Hauptanliegen und Auseinandersetzungen zur Sprache. Wichtig hinsichtlich seiner Kompetenz im Blick auf die im „Judenbüchlein“ geführte Diskussion sind die Hinweise auf seine vielfältigen sprachlichen Studien und persönlichen Kontakt zu Juden.
Der Anlass für das Bekanntwerden dieser ursprünglich als Gutachten in einem anderen Fall verfassten Schrift wird ebenso deutlich dargestellt wie die Tatsache, dass ausgerechnet eine Stellungnahme des Ingolstädter Theologen Johannes Eck als einzige zeitgenössische Reaktion darauf es ermöglichte, das 1893 entdeckte Exemplar zu identifizieren. Umgekehrt verwundert es nicht, dass Osiander daraufhin jüdischer Abstam¬mung verdächtigt wurde. Vielleicht hätte man einen Ausdruck, den Osiander in der Einleitung seiner Schrift bezüglich seines Verhältnisses zu den Juden verwendet, noch genauer reflektieren können. Mit Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass der von Osiander verwendete Begriff „verwonet“ nicht auf ein Zusammenwohnen mit Juden schließen lasse. Sie entscheiden sich für „in einem guten Verhältnis“; der Rezensent hat sich in einer früheren Untersuchung (näher am Wortlaut liegend) für „vertraut“ („gewohnt“) entschieden. Wichtig für die heutige Beschäftigung mit dem Phänomen der im Mittelalter weit verbreiteten Ritualmordbeschuldigung ist die kurze historische Zusammenfassung im Anschluss an den israelischen Forscher Israel Yuval, der sie auf die Legenden zurückführt, die sich schon bei den Kirchenvätern an die Kreuzigungsgeschichte anschlossen. Interessant sind auch die Hinweise auf Zusammenhänge mit der Transsubstantiationslehre bei Eck und der abgeschwächten, nicht mehr religiös-rituellen Motivation bei Luther. Allerdings habe die Gleichrangigkeit der Bibel mit dem Talmud bei Luther zu der Überzeugung geführt, die gegenwärtigen Juden seien nicht mit dem biblischen Gottesvolk identisch.

„Die interessantesten Argumente des Nürnberger Reformators sind zweifellos die auf dem Gebiet der Bibelexegese und der rabbinischen Literatur“, fassen die Herausgeber ihre Bewertung der Osianderschen Schrift zusammen und bescheinigen ihm, „er war humanistisch, fast möchte man sagen: religionskundlich interessiert.“ Da hier nicht Osianders gesamtes „Judenbüchlein vorgestellt werden kann, ist dies eine treffende Charakterisierung, die bei der Beschäftigung mit dem Text als Lesehilfe dienen kann. Ebenso wichtig ist auch die Feststellung: „Der Schrift Osianders war es … offenbar zu verdanken, dass es im Zusammenhang mit dem Sappenfelder Mordfall nicht zu Judenverfolgungen kam.“ Allein diese Feststellung macht auf Osianders Ausführungen ge¬spannt. Diese werden in einer Übertragung in heutiges Deutsch und durch die Herausgeber gut gegliedert dargeboten. Dabei führt Osiander nach einer allgemeinen Beurteilung dieses Sachverhalts in der Widmung dieser Schrift, insgesamt zwanzig Argumente gegen die Glaubhaftigkeit dieser Beschuldigungen auf, wobei die gewichtigsten Gründe zu Beginn genannt werden: neben dem grundlegenden Verbot des Mordens das generelle Verbot des Blutgenusses. Diese werden theologisch begründet, die weiteren oft logisch und pragmatisch. Dabei wird auch ein Schutzbrief Kaiser Friedrichs III. zitiert und schließlich eine philologische Erklärung für ein Missverständnis gegeben. Wie immer sind auch hier Querverweise durch Fußnoten gut und nachvollziehbar belegt.
Dieser theologischen Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Ritualmordes fügte Osiander bezüglich des ursprünglichen Pösinger Falles noch einige Ratschläge an, wo die eigentlichen Verdächtigen zu suchen sein könnten. Er macht dabei sowohl Habgier als auch oberflächliche Recherchen verantwortlich; diese Argumente muss man sich jedoch nicht zu eigen machen – selbst wenn sie zutreffen sollten.
Insgesamt ist diese Schrift nicht nur für kirchenhistorisch und judentumskundlich Interessierte lesenswert, sondern ein sozialpsychologisches Dokument, das sich in seiner Gesamttendenz auch auf den Umgang mit heutigen Vorurteilen übertragen lässt.

Dr. Hans Maaß, Karlsruhe

Andreas Osiander
Ob es wahr und glaublich sei ...
Eine Widerlegung der judenfeindlichen Ritualmordbeschuldigung
Studien zu Kirche und Israel. Kleine Reihe (SKI.KR), Band 2
Herausgegeben von Matthias Morgenstern und Annie Noblesse-Rocher

125 S., brosch.
2018
ISBN 978-3-374-05661-3
18,- Euro

Evang. Verlagsanstalt, Leipzig


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